Reformen in Polen 1956: Der polnische Oktober
Der „Polnische Oktober“ 1956 zeichnet sich durch Proteste und die Einsetzung eines neuen Generalsekretärs in Polen aus, ohne dass diese niedergeschlagen werden. Fast ohne Waffengewalt sind hier plötzlich Änderungen möglich. Auch wenn sie vielen bald nicht weit genug gehen, ist es durchaus bemerkenswert. Denn zur gleichen Zeit bereitet die Sowjetunion eine militärische Intervention in Ungarn vor, um den dortigen Aufstand niederzuschlagen.
Wie war das möglich?
Die Vorgeschichte beginnt eigentlich schon im Februar 1956. Der sowjetische Generalsekretär Nikita Chruschtschow hält eine geheime Rede, die enorme Auswirkungen in mehreren Ländern haben soll. Er kritisiert den Stalinismus, das extrem harte Vorgehen Stalins gegen Kritiker und den enormen Personenkult um den 1953 verstorbenen Machthaber. Die Rede richtete sich gleichzeitig aber auch gegen Machthaber anderer sozialistischer Staaten, die unter Stalin an die Macht gekommen waren und den Personenkult weiterhin unterstützen. Zu ihnen gehört Bolesław Bierut, der Erste Generalsekretär der Polska Zjednoczona Partia Robotnicza (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei – PVAP).
Diese Rede Chruschtschows wird publik, zunächst in der Sowjetunion, verbreitet sie sich schließlich auch in anderen osteuropäischen Ländern. Besonders in Polen wird sie rasend schnell bekannt. Zudem stirbt im März 1956 überraschend auch der erste Sekretär der polnischen Partei, Bolesław Bierut, in Moskau. Ihm wird eine Enge Bindung zum Stalinismus nachgesagt. Nun brechen innerparteiliche Konflikte über eine Nachfolge und den zukünftigen Kurs der Partei aus und es zeigen sich Schwächen in der Führung. Das bietet für die Bevölkerung einige Chancen. Dazu gehörte eine zunehmende Pressefreiheit. Außerdem sind weite Teile der Bevölkerung unzufrieden mit der engen Verbindung zur Sowjetunion sowie mit der Lebenssituation im sozialistischen Polen , denn die Versorgung ist mangelhaft. Auch die Produktionsbedingungen in den Betrieben führen zu Unzufriedenheit. Im Stahlwerk Poznań gibt es bereits seit mehreren Monaten Beschwerden, da einerseits Materialien zur Fertigung fehlen, gleichzeitig aber die Normen erhöht werden. Für den Lohn wird dabei ein Soll festgelegt, dass jede*r Mitarbeiter*in erreichen muss, sonst werden Teile des Lohns einbehalten. Mitunter kommt es vor, dass dieses Soll, die Norm, erhöht wird, die Menschen also mehr arbeiten müssen für den gleichen Lohn.
Poznań und die Wiedereinsetzung von Władysław Gomułka
Im Juni 1956 kommt es schließlich zu Protesten in Poznań, die vom Militär blutig beendet werden. Aber die Konflikte innerhalb der Partei machen es möglich, weiter Kritik am System zu üben. Eine Forderung ist die Wiedereinsetzung Władysław Gomułkas, der 1948 abgesetzt und 1951 inhaftiert worden war. Während des Zweiten Weltkriegs gründete er die Polska Partia Robotnicza (Polnische Arbeiterpartei – PPR) mit. Nach dem Ende des Krieges gab es Streitigkeiten um die Ausrichtung u. a. mit Bolesław Bierut, der sich mit seiner engen Anbindung an die Sowjetunion durchsetzte, und Gomułka verhaften und inhaftieren ließ. 1954 wird Gomułka aus der Haft entlassen.
Władysław Gomułka genießt in der polnischen Bevölkerung großes Ansehen und so nimmt die PVAP Verhandlungen über seine Rückkehr in die Politik mit ihm auf. Am 21. Oktober 1956 wird Gomułka tatsächlich als Generalsekretär eingesetzt. Auch der sowjetische Generalsekretär Nikita Chruschtschow stimmt zu – er war extra aus der Sowjetunion angereist, um die Einsetzung zu verhindern, ist aber schließlich einverstanden. Er hatte aber parallel bereits angeordnet, dass sowjetische Truppen sich Richtung Warschau bewegen sollten.
Gomułkas Programm sieht eine Entstalinisierung Polens vor, die Mitgliedschaft in Produktionsgenossenschaften der Landwirtschaft soll freiwillig sein, woraufhin eine große Mehrheit aus den Produktionsgenossenschaften austritt. Außerdem soll Polen unabhängiger vom Einfluss der Sowjetunion werden und einen eigenen Weg für den Sozialismus im Land finden. Der neue Generalsekretär weckt damit große Hoffnungen bei den Menschen in Polen, gleichzeitig haben sie Sorge vor einer militärischen Intervention vonseiten der Sowjetunion. So folgen Tage der Massenproteste im ganzen Land, die sich auch nicht unter Kontrolle bringen lassen. Es wird Kritik an der Sowjetunion und Unzufriedenheit über das politische System geäußert.
Der Aufstand in Ungarn
Auch in Ungarn sorgt die Rede von Nikita Chruschtschow von Februar 1956 für lauter werdende Forderungen. Als am 23. Oktober 1956 Studierende in Budapest protestieren, war dies neben der Forderung von Reformen in Ungarn auch das Bekunden von Solidarität für Polen. Als nach dem Ende der Kundgebung auf Demonstrant*innen geschossen wird, kommt es zum Aufstand. Innerhalb weniger Tage breitet sich ein Volksaufstand im ganzen Land aus. Die Menschen in Ungarn fordern u.a. freie Wahlen und die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Auch hier wird zudem die Wiedereinsetzung eines bekannten und beliebten Politikers gefordert: Imre Nagy. Er war bereits 1953 Vorsitzender des Ministerrats und hatte Pläne für Reformen in Ungarn. 1955 wird er abgesetzt. Am 24. Oktober 1956 wird er erneut als Ministerpräsident eingesetzt, in der Hoffnung, die Lage zu beruhigen. Er verspricht die Zulassung von mehr als einer Partei, mehr Unabhängigkeit von der Sowjetunion und die Vorbereitung zum Austritt aus dem Warschauer Pakt, der schließlich am 1. November vollzogen wird. Gleichzeitig beginnen sowjetische Truppen, wichtige Stellen in Budapest zu besetzen.
Ebenso wird in Polen Ende Oktober protestiert. Nach einer Kundgebung von Gomułka mit 300.000 Teilnehmenden vor dem Kulturpalast in Warschau, ziehen die Demonstrierenden weiter durch die Stadt und üben lautstark Kritik an der Einflussnahme der Sowjetunion auf innerpolnische Angelegenheiten. Sie zeigen hier auch ihre Unterstützung für die Proteste in Ungarn. So veröffentlicht die polnische Regierung in den folgenden Tagen eine Erklärung, in der sie sich mit der Bevölkerung Ungarns solidarisiert. Diese wird auch ins Ungarische übersetzt und dort ebenfalls in Zeitungen publiziert. Außerdem reist eine Delegation Gomułkas nach Budapest, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Sie bekunden Unterstützung, wollen aber auch zur Vorsicht mahnen.
Niederschlagung des Aufstands und Ende der Reformen auch in Polen
Tatsächlich folgt am 1. November 1956 ein Treffen zwischen einer sowjetischen und einer polnischen Delegation, bei dem die polnische Regierung informiert wird, dass eine militärische Intervention in Ungarn geplant wurde. Polen, das nicht nur große Solidarität mit Ungarn gezeigt hatte, sondern auch wusste, dass man selbst erst vor wenigen Tagen große Umbrüche ins Rollen gebracht hatte, besteht auf eine Sondermeinung. Sie berufen sich darauf, dass es sich um eine innere Sache Ungarns handle, in die sich andere Staaten nicht einmischen dürfen. Aber sie müssen die Entscheidung der Sowjetunion akzeptieren, dass der Aufstand in Ungarn militärisch niedergeschlagen werde.
Gomułka erklärt die Zurückhaltung Polens mit der Sorge einer Intervention auch auf polnischem Staatsgebiet. Auch hat Polen ein zwiespältiges Verhältnis zu sowjetischen Truppen auf ihrem Staatsgebiet, denn nach der Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg, hatte die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Linie als Grenze nicht anerkannt. Sowjetische Propaganda trägt weiter dazu bei, aus Sorge vor einer deutschen Intervention nicht auf den Schutz der Sowjetunion zu verzichten.
Als am 4. November 1956 der Aufstand in Ungarn blutig niedergeschlagen wird, nimmt die polnische Regierung die Ereignisse lediglich mit Bedauern zur Kenntnis. Imre Nagy wird verhaftet und angeklagt. Gomułka spricht sich 1957 gegen die Verurteilung Imre Nagys aus, erfolglos. Nagy wird 1958 hingerichtet. Es ist das Ende der Reformbemühungen in Ungarn und auch in Polen. Władysław Gomułka führt einige zaghafte Reformen durch, aber große Teile der Bevölkerung hatten sich mehr versprochen. Er wird 1970 gestürzt.
________________________
- Foitzik, Jan: Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa: 1953 – 1956 ; vom 17. Juni bis zum ungarischen Volksaufstand ; politische, militärische, soziale und nationale Dimensionen, Paderborn 2001, http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/BV013586133/ft/bsb00044337?page=1
- Heinemann, Winfried, Wiggershaus, Norbert (Hgg.): Das internationale Krisenjahr 1956. Polen, Ungarn, Suez, München 1999.
- Petersen, Hans-Christian. “Der Polnische März 1968: Nationales Ereignis Und Transnationale Bewegung.” Osteuropa, vol. 58, no. 7, 2008, pp. 71–86. JSTOR, jstor.org/stable/44934836. Accessed 21 Oct. 2022.
- https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/342325/vor-65-jahren-ungarischer-volksaufstand/
- https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29785/warschau-budapest-1956/
- https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29783/entstalinisierung-und-die-krisen-im-ostblock/